Gedankensplitter

Vorlesen

Hörbücher werden immer beliebter. Einerseits ist es der Zeitmangel, wegen welchem wir uns Bücher lieber vortragen lassen, als sie selbst zu lesen. Das nämlich funktioniert zum Beispiel auch im Auto. Andererseits wohnt dem Vorlesen ein gewisser Zauber inne. Vielleicht entführt es uns in die Zimmer unserer Kindheit, als die Gute-Nacht-Geschichte Geborgenheit vermittelte, uns Abenteuer im Kopf erleben ließ und wir sicherheitshalber vor dem Einschlafen noch einen Blick unters Bett warfen.

Wie intim kann es sein, wenn ein Partner dem anderen ein Gedicht vorliest, mit sanfter Stimme und Liebe im Herzen? Mitunter ähnelt es einer Berührung, die man auf der Haut spürt.

Die oben erwähnten Hörbücher werden von Menschen eingesprochen, die ein besonderes Merkmal in der Stimme haben, einen Wiedererkennungswert. Ein Instrument, das Atmosphäre erzeugt. Töne schaffen ein eigenes Universum.

Auch ich habe die Erfahrung gemacht, wie magisch es sein kann, Menschen etwas vorzulesen. Es ist eine Sache, über Personen, Dinge, Gefühle und Stürme zu schreiben. Da ist man im Fluss, eins mit sich und seinem inneren Sprachschatz, am liebsten abgeschnitten von Raum und Zeit. Etwas ganz anderes ist es, aufmerksame Zuhörer für die eigenen Texte zu haben, sie ihnen vor die Füße zu legen. Das Schreiben wird durch eine gewisse sinnliche Erfahrung erweitert. Man setzt eine gewisse Betonung, der Text klingt, er wird zur Melodie. Man improvisiert, gestaltet einen Satz mitten im Lesen um, ersetzt ein Wort, lässt eines weg. Die Zeilen werden lebendig, atmen, erhalten einen Körper.

Wie frisch geschlüpfte Küken stehen sie noch etwas zerzaust vor dem Nest, schauen schüchtern in die Runde vor ihnen, in lauter neugierige Augen, die sich auf sie richten. Dann schütteln sie ihr Gefieder und wagen den Flug. Ganz stolze Mama schaue ich ihnen nach.

Ich beobachte meine eigene Stimme – wie sie mitgeht, schwingt, wie sie sich manchmal vor Rührung belegt, manchmal schauspielert und in seltenen Momenten sogar zittert. Ich gebe meinen Worten einen Luftkuss und puste sie mit Liebe in die Welt. Wenn ich erlebe, was sie mit den Menschen anrichten, dann wird mir wieder einmal klar, warum ich schreibe.

Allerdings sollte man nicht einfach drauflos lesen. Jeder Mensch, der schon einmal gesungen oder etwas vorgetragen hat, weiß, dass man das beherrschen sollte. Jedes Instrument muss erlernt werden und klingt nur dann schön, wenn man regelmäßig probt. Es gibt nichts Schlimmeres, als einen Autor, der sich ständig verliest. Das stört den Fluss enorm. Ebenso seine Texte emotionslos herunterzuleiern – Texte müssen lebendig werden. Humor darf übrigens auch sein.

Man sollte außerdem fähig sein, zwischendurch zu moderieren, nahbar zu werden und mit den Zuhörern in Interaktion zu treten. Dadurch sehen sie die Person hinter dem Werk. Es geht um die richtige Betonung, eine klare Aussprache und ganz viel Gefühl.

Im besten Fall werden die Seelen im Raum dann für kurze Zeit zu einer einzigen …

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