Als ich ein Kind war, sagte mein Vater am Heiligen Abend zu mir: „Wenn du noch wach bist, kannst du um Mitternacht mit den Tieren reden.“ Wie geheimnisvoll! Ich schaffte es zwar nie, die Augen solange offen zu halten, aber ich wollte ihm glauben, die Vorstellung war wundervoll, dass mein kleiner Hund Tapps mir Antwort geben würde. Ein wenig Angst bekam ich, wenn meine Großmutter meinte, dass wir über die Feiertage keine Wäsche aufhängen sollten, „in der könnten sich die Seelen verfangen, die in der Weihnachtszeit bei uns sind.“
Ich bin auf dem Land großgeworden, und Kindern waren alte Bräuche und Überlieferungen geläufig. Ich hatte damals nur kein Wort dafür, heute weiß ich, die Alten sprachen von den Raunächten, der mystischen Zeit zwischen dem heiligen Abend und dem Dreikönigstag. Ob man nun an die Weihnachtsgeschichte glaubt oder nicht, aber nahezu jeder Mensch spürt den Zauber dieser besonderen Tage, wenn alles zur Ruhe kommt, die Dunkelheit ihren Höhepunkt erreicht, um am Tag der Sonnenwende langsam wieder dem Licht zu weichen und die Menschen näher zusammen rücken.
Ich selbst habe den Begriff der „Raunacht“ schon vor Jahren aufgeschnappt, und es hat mich immer fasziniert. Da ich mich aber auch einmal mit den historischen Hintergründen der Raunächte auseinandersetzen wollte, habe ich mir das kleine Büchlein „Aufbruch in die Raunächte“ von Susanne Gärtner und Katrin Bliedtner-Sisman zu Gemüte geführt. In höchst liebevoller Art und Weise bringen die beiden Autorinnen einem die Mystik dieser Zeit näher, die für manche schon am Tag der Sonnenwende beginnt.
Besonders gut haben mir die Erläuterungen der uralten Bräuche gefallen, wie zum Beispiel die hier allseits bekannten Perchtenläufe, das Räuchern, Wettervorhersagen, das Stillstehen der Räder und den Brauch mit der Wäsche, den ich ja bereits von Großmama kannte.
Die beiden Frauen schaffen in ihrem Buch eine Wohlfühlatmosphäre, die in einem die Vorfreude entfacht auf die Ruhe, die Magie, die „Anderswelt“. Vor allem bekommt man einen unverstellten Blick auf den Wert der dunklen Tage, wir betreiben alle zuviel Sommersonnenverherrlichung als einzig schöne Zeit des Jahres. Die Alten wussten um den Wert des Gegenteils, und dass es eine Zeit des Schaffens und eine der Ruhe geben muss, damit die Natur im Gleichgewicht ist.
Es werden Rituale beschrieben, Meditationstechniken, die Themen und Energien der einzelnen Nächte, untermalt mit uralten Texten. Als Lyrikerin berühren mich diese Worte tief, ich erlaube mir, den Text der Wintersonnenwende aus dem Buch zu zitieren, Seite 106:
„Wintersonnenwende, Verkünderin des Dunkels Ende. Erhaben bäumt sich die Finsternis auf, es wird gefeiert, so will es der Brauch. Das Licht verhüllt, und sichtbar nur ein Minimum, das geistige Sehen öffnet sich kraftvoll drum. Erkenne, was war, was ist und viellecht geschieht, Deine Hoffnung des Herzens über die Ängste siegt.“
Wunderschön!
Sehr nett fand ich die Idee, ein Raunachttagebuch zu führen, in das man an jedem der zwölf Tage festhalten kann, wofür man dankbar ist, wie es um die eigene Stimmungsqualität steht, was man geträumt hat, was man für das alte Jahr abschließen will und sich für das neue vornimmt. Die therapeutische Wirkung des Schreibens wird hier aufgegriffen, und es macht Spaß, im Laufe des neuen Jahres darin zu blättern.
Viel mehr will ich hier gar nicht verraten, die Mystik soll ja erhalten bleiben! Nur soviel: nützt diese Zeit der Stille, keine andere des Jahres hat diese Energie. Wehrt euch nicht gegen die lange Dunkelheit, sie ist wichtiger Teil der inneren Sammlung!
Ich wünsche Euch eine besinnliche Zeit, mystische Raunächte und den Glanz der Liebe in dieser Weihnachtszeit!
„Aufbruch in den Raunächten“ von Susanne Gärtner und Katrin Bliedtner-Sisman, Dielus Edition Leipzig, 2018