Gedankensplitter · Inspirierende Persönlichkeiten

Darf Kunst töten?

Ich wage zu behaupten, dass ich mich sehr ausführlich mit der Biografie von Tim Bergling alias Avicii auseinandergesetzt habe. Man findet Beiträge über ihn hier auf dem Seelenlandeplatz, er war Thema meiner Diplomarbeit – jeder, der mich kennt, weiß um seinen Wert für mich. Dem liegen teilweise äußerst persönliche Ursachen zugrunde.
Tatsächlich las ich am vergangenen Donnerstag, seinem 5. Todestag, von einer Episode seiner Karriere, die mir noch nicht bekannt war. Diese hat mich sehr berührt, aber nicht nur, weil sie mit Tim zu tun hat.

Er wollte einfach Musik machen, kreativ sein, die Töne, die er fühlte, zu Papier bringen und später in Lieder verpacken. Er hat immer wieder betont, dass dies im Grunde das Einzige war, was ihn jemals glücklich gemacht hat. Die Menschen wurden alsbald auf ihn aufmerksam, und ausgerechnet bei der Livepremiere seines späteren Welthits und internationalen Erfolges, ging alles schief.
Er präsentierte zum ersten Mal „Wake Me Up“, diesen besonderen Mix aus Country, Folk und elektronischer Musik – und erntete verhaltene Reaktionen bis Buhrufe. Und das ausgerechnet auf dem Festival, auf dem er im Vorjahr als erfolgversprechendster Newcomer – anmoderiert von Madonna – gefeiert wurde. Der holländische Dj Tiesto war damals anwesend und erinnert sich, dass Tim in seiner Garderobe förmlich zusammenbrach, am Boden zerstört war und die Welt nicht mehr verstand. Was er für brillant hielt, schien der Welt nicht zu gefallen.

Hier zeigt sich in ganzer Bandbreite, dass es das größte Gift überhaupt ist, wenn eine sensible Seele, die nichts anderes will als zu erschaffen, plötzlich den Applaus von einer anonymen Masse als Gradmesser für Qualität heranzieht – oder in diesem Augenblick nicht anders kann, weil sich seiner ureigenen Kunst längst andere Fremdenergien bemächtigt haben; woher diese stammen, ob aus einem selbst oder von außen, sei dahingestellt.
Der Rest ist bekannt, drei Monate später erobert das Lied weltweit die Charts, ab dann wird Tim von Show zu Show, von Interview zu Interview gereicht, vermarktet und präsentiert. Ob er will oder nicht. Bis er selbst die Notbremse zieht, die Öffentlichkeit und Auftritte meidet und verlauten lässt, er wolle dorthin zurück, wo er es geliebt hat: in die Stille, um in aller Ruhe kreativ zu sein. Leider war es zu spät für ihn, er hatte sich bereits gegen das Leben entschieden …

Man kommt nicht an der Frage vorbei, weshalb ausgerechnet Künstler oft seelisch verzweifeln. Müssten nicht gerade sie, die sie das tun dürfen, was sie am meisten lieben, die glücklichsten Menschen überhaupt sein? Sie, die sie keinen faden Frondienst an irgendwelchen banalen Arbeitsplätzen verrichten müssen, sondern stattdessen leuchten und strahlen dürfen?
Wie groß ist der Druck wirklich, wenn man sich mit dem, was man liebt, an Menschen heranwagt, es ihnen vor die Füße legt und sich dann nicht die erhoffte Resonanz einstellt? Wenn zwar ein Werk gelingt, das nächste jedoch nur ein müdes Abnicken auslöst? Wenn man blockiert ist oder gerade Schmerzen hat, doch der Manager zu verstehen gibt, dass man das nicht bringen kann, dass von einem hunderte Jobs abhängen – dass man die Kuh ist, die bis zum bitteren Ende gemolken werden soll?

Darf Kunst vermarktet werden? Und wenn ja, nur von einem selbst oder gar von anderen, die keinerlei emotionalen Zugang dazu haben?
Die Selbstmordrate, der Konsum von Suchtmitteln, die späteren Beichten von mentalen Zusammenbrüchen zeigen sich unter Künstlern ungleich häufiger als in gewöhnlichen Berufsgruppen. Man kann es kaum nachvollziehen, wo man ebendiese doch bewundert, feiert und bejubelt. Aber beklatschen die Menschen ein Kunstwerk, weil es eben allen gefällt, es gerade modern ist oder weil es sogenannte Kunstkritiker feiern? Oder macht sich jemand die Mühe zu verstehen, was der Künstler eigentlich zu sagen hat? Was er von sich preisgibt und ausdrücken will? Interessiert sich irgendwer für den Seelenstriptease, den er geschenkt bekommt, tiefgehender als für einen Tanz, einen Museumsbesuch oder ein Konzert respektive eine Lesung? Man geht nach Hause und setzt seinen Alltag fort. Für den Künstler ist das vielleicht nicht so leicht.

Darf Kunst alles, darf sie töten? Ihre Waffen mögen keine physischen Wunden hinterlassen, aber weniger gefährlich sind sie deshalb noch lange nicht. Folglich darf man sich getrost fragen, ob man den Menschen hinter dem Werk überhaupt SIEHT, ob man ihn begreift – oder ob man sich seiner lediglich bedient.

Tims Schicksal hat mich schon immer bewegt, doch jetzt hat sich jemand dazugesellt. Jemand, der eine Künstlerseele hat und mich hineinblicken lässt. Für dieses Vertrauen bin ich zutiefst dankbar. Wenn dir die Kunst gefährlich wird, dann hoffe ich, auf dich aufpassen zu können.

2 Antworten auf „Darf Kunst töten?

  1. Wertvolle Gedanken.
    Es geht wohl vielen Künstlern so, mehr oder weniger tiefgreifend. Sehr viele, vielleicht sogar die meisten, gehen einem „banalen“ Alltagsjob nach; die wenigsten können von ihrer Kunst leben. Aufstieg und Fall geschieht da vielleicht im Verborgenen genauso.

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