Kurzgeschichten

Bergwelten – Teil 4

Sie schlief tief und traumlos, deshalb fühlte sie sich am nächsten Morgen ausgeruht und bereit für die Eindrücke, die ihr das Leben an diesem neuen Tag zu bieten hatte.
Er holte sie pünktlich ab und nebeneinander machten sie sich auf. Immer wieder erklärte er ihr die Pflanzen am Wegesrand und lächelte, wenn sie sich niederkniete, um eine kleine Blüte zu streicheln. Ihr Ziel war ein kleines Dorf ziemlich weit oben in den Bergen, das man in einem halben Tagesmarsch erreichen konnte und von welchem er ihr erzählte, dass es magisch sei. Komfort gebe es dort zwar kaum, aber dafür finde einmal im Jahr ein Fest zur Sonnenwende statt, das man erlebt haben müsse. Man sei danach nicht mehr derselbe Mensch wie vorher, meinte er geheimnisvoll. Die Wolken, die sie auf ihrem Weg begleiteten, wirkten an manchen Stellen fast zum Greifen nah.

Obwohl die Wanderung für sie anstrengend und ungewohnt war, genoss sie jeden Augenblick. Beinahe genoss sie sogar den leichten Schmerz in den Muskeln, denn sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zuletzt so lebendig gefühlt hatte. Ihr Körper trat in Resonanz mit der Natur und hieß das Heilige der Pflanzen- und Tierwelt in ihrem Inneren willkommen.

Neben dem Duft mancher Blüte hing in der Luft noch ein anderer Geruch. Ein Hauch von etwas Großem, das sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht einordnen konnte. Noch wollte sie der bedrohlichen Naturgewalt keinen Raum in ihrem Bewusstsein geben. Noch wollte sie die dunklen Wolken, die sich hinter ihnen zusammenbrauten, nicht wahrnehmen. Sie bemerkte nicht, dass sein Blick jenen Wolken bereits folgte, begleitet von einem leichten Stirnrunzeln. Sie war versunken in die Betrachtung der Natur, eingetaucht in die Gegenwart des Mannes neben ihr; seine Aura nahm sie gefangen, so faszinierend wirkte er. Dieser Mann vermochte es, einen in den Moment einzuhüllen, den man mit ihm teilte.

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