Gedankensplitter · Hochsensibilität

Was die alte Fotokiste über eine Hochsensible erzählt

Man kennt das ja – beim Entrümpeln steckt man ewig in einer Kiste mit alten Fotos fest, wo sich Jahrzehnte in einem wilden Chaos aufeinander türmen. Ein Roadtrip durch das eigene Biopic: bunt, manchmal karg, ganz alltäglich und dann wieder außergewöhnlich.
Menschen erzählen, dass ihnen Jugendfotos ein wenig peinlich sind. Die Klamotten, die Frisur, die Pose. Wenn man solche Szenen in Filmen sieht, seufzen Menschen entrückt, weil Erinnerungen oder die Nostalgie sie übermannen und sie einer Vergangenheit hinterhertrauern, die die Gegenwart in einem fahlen Licht zurücklässt.
Bei mir war es immer genau umgekehrt. Wenn ich etwas nicht mache, dann ist es, in der Vergangenheit zu leben oder diese gar zu verklären. Die beste Zeit war und ist stets die Gegenwart. Als ich all diese Fotos in der Hand hatte, lösten sie an einigen Stellen ein leises Unbehagen aus. Fast, als würde ich den Kinofilm einer mir ähnlichen Person sehen.

Alles war entspannt bis zum frühen Teenageralter, als ich einfach zur Schule und dann nach Hause ging, als ich nur diese kleine Welt kannte und dachte, alle Menschen würden gleich ticken. Die Erhellung, dass das nicht der Fall ist, kam mit der Bildung von Cliquen, mit der man fortan die Wochenenden verbrachte und so dem direkten Vergleich mit anderen Jugendlichen ausgeliefert war.
Ohne das Wort „Hochsensibilität“ je gehört, geschweige denn mich selbst darunter verortet zu haben, wunderte es mich, dass ich die Einzige war, die in der Diskothek Ohrenschutz trug und bei zu grellen stroboskopischen Effekten kurz den Raum verließ. Die Einzige, die sich vor dem Kontrollverlust durch Alkohol fürchtete und deshalb lieber die Finger davon ließ, größere Menschenansammlungen mied und sich sehr oft nach dem Rückzug ins eigene Zimmer sehnte. Dummerweise ließ sich so ein Rückzug nicht allzu gut mit dem Gefühl vereinen, dann etwas Entscheidendes zu verpassen.
Mein soziales Umfeld schien nicht im gleichen Ausmaß mit meinem Drang nach Tiefenanalyse, Abwägen und Durchdenken der Dinge ausgestattet zu sein. Für mich war alles immer zu schnell zu viel. Überwältigend.

Diese Tatsachen ließen eine Unsicherheit aufkommen – und wer unsicher ist, agiert auch anders. Man maskiert sich, spielt Rollen und lässt sich unbedacht auf Dinge ein, die einen eigentlich stressen. Man ist wahnsinnig anpassungsfähig.
Ich wurde zu einer Suchenden, innerlich Rastlosen, angetrieben von dem Wunsch, meinen Platz auszufüllen – in der Gesellschaft, in menschlichen Beziehungen, an Orten. Am wohlsten fühlte ich mich mit Tieren, im Theater, beim Schreiben, Lesen und natürlich bei der Musik.

Ich blickte also auf diese Fotos und dachte mir: Nein, es gibt überhaupt nichts, wofür ich mich genieren müsste. Aber könnte ich eine Sache mit heutigem Wissen ändern, dann die, dass ich viel mehr zu meinen Bedürfnissen hätte stehen sollen. Es ging überhaupt nicht darum, dass mich die Optik meines jugendlichen Ichs irritierte, sondern die emotionalen Flashbacks, die die Fotos wachriefen. So viele Situationen, in denen ich nicht „ich“ war, sondern die, von der ich meinte, dass sie am besten zu der Situation passen und dadurch Harmonie sicherstellen würde.

Heute habe ich meine hochsensible Anlage liebevoll akzeptiert und integriert. Ich komme damit bestens zurecht, habe mir ein Umfeld mit den richtigen Menschen geschaffen, wo ich meinen Raum haben sowie mich entfalten darf und es mir niemand übelnimmt, wenn ich meinen Rückzug antrete. Eine Zeitlang habe ich versucht, nicht darüber zu sprechen, damit ich nicht den Eindruck erwecke, ich würde die HS wie eine Fahne oder einen Schutzschild vor mir hertragen. Davon würde ich allerdings abraten. Es führt zu nichts. Und selbstverständlich darf man zu dem stehen, was man nun einmal ist. Man tut keinem einen Gefallen, wenn man das Chamäleon gibt – weder sich selbst noch seinem Umfeld.

Die Gesellschaft ist ziemlich schnell mit Bewertungen, was „Andersartige“ betrifft. Die sollen sich nicht so anstellen, so schwierig kann es doch bitte nicht sein, sich ein bisschen anzupassen.
Mir fielen all die Leute ein, die nicht ins Normspektrum passen; queere Menschen, Fremde im eigenen oder in einem anderen Land oder einfach nur welche, die es ihrem Gegenüber nicht ganz einfach machen. Menschen, bei denen sich das Hinsehen, geschweige denn die aktive Auseinandersetzung anstrengend oder gar unangenehm anfühlen.
Als ich diese alten Fotos betrachtete, kam so etwas wie Mitgefühl in mir hoch. Nicht, dass ich eine hochsensible Veranlagung mit allem oben Genannten in einen Topf werfen würde, jedoch erwachte in mir ein Verständnis, das ich in der Form noch nicht empfunden hatte – und noch etwas, was ich besonders schön fand:

Verbundenheit.

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