Gedankensplitter

Virtuelle Ersatzwelt

Generell würde ich Fortschritt als etwas Positives sehen. Ich gehöre nicht zu den Verfechtern der „Früher war alles besser“-These. Dass die Welt und die Menschen entspannter und entschleunigter durchs Leben gegangen sind, das mag der Wahrheit entsprechen. Wissen können wir es allerdings nicht. Ich denke, jede Zeit hatte ihre eigenen Stressfaktoren, seien es Kriege, Krankheit, Armut oder Wirtschaftskrisen.

Den Fortschritt per se zu verteufeln, halte ich nicht für richtig. Stimmt, das Tempo, in dem sich die Dinge entwickeln, dürfte manchmal langsamer sein, damit auch unser Gehirn in der Lage ist, hinterherzukommen. Die Erkenntnis darf reifen, dass der technische Standard von heute zwar großartige Vorteile mit sich bringt, die Sehnsucht nach einem Gegenpol jedoch linear dazu wächst. Die Sehnsucht nach Natur, nach biologisch reinen Lebensmitteln, nach weniger Chemikalien und mehr echten sozialen Kontakten. Die Sehnsucht nach einer gesunden Balance also.

Stichwort soziale Kontakte: In Zeiten der Pandemie habe ich mir darüber Gedanken gemacht. In früheren Tagen hätten Lockdowns und Quarantäne für manche Menschen die komplette Isolation von anderen bedeutet, ja sogar von den Nächsten. Man las seinerzeit, dass der Kampf gegen die Pandemie auch ihren psychischen Tribut fordert. Viele könnten mit den Umständen nicht umgehen.
In Wahrheit sind wir eben schlicht soziale Wesen, die hin und wieder eine Herde brauchen und abhängig von der Zuneigung und Zuwendung anderer Menschen sind. Ein Baby, das nicht berührt wird, hat ein schwächeres Immunsystem als eines, welches schlecht ernährt wird. An sozialer Kälte können wir verenden.

In der Zeit der Pandemie trug gerade der technische Fortschritt dazu bei, dass wir wenigstens virtuell verbunden bleiben konnten. Über Smartphones und Computer, über Messenger, E-Mails und Videochats. Weil wir uns auf dem Bildschirm sahen, fühlten wir uns, als würden wir an den Vorgängen in der Welt da draußen teilhaben – gemeinsam. Diesen Luxus hatten Menschen früher nicht. Quarantäne bedeutete Einsamkeit, nur unterbrochen von der Hand, die einem das Essen unter der Tür durchgeschoben hat.

Ärzte konnten ihre Patienten via Skypeordination betreuen. Gut, sie vermochten vielleicht keinen Zahn zu ziehen, aber so manche Frage konnte mit einer beruhigenden Antwort abgefedert werden. Und dank des Onlinehandels hatten wir zudem Zugriff auf Gebrauchsgegenstände. Doch damit nicht genug.

Ein Bekannter von mir leitet eine Eventfirma in Wien, die damals stillstand. Er hatte sich eine großartige Idee einfallen lassen.
Im Falle des Ablebens eines nahestehenden Menschen litten die Angehörigen unter einer doppelten Last. Zu jener Zeit durften keine Begräbnisse stattfinden. Diese stellen jedoch einen wesentlichen Teil der Trauerbewältigung dar. Er hatte sich überlegt, die Zeremonie mithilfe seiner Ausrüstung und in Zusammenarbeit mit dem Bestattungsunternehmen zu filmen und live im Netz zu übertragen. Somit konnte jeder, der um den Verstorbenen trauerte, für sich zu Hause in aller Stille daran teilnehmen.
Ich fand das großartig, einerseits für die Trauernden, andererseits für meinen Bekannten. Hier hatte jemand eine Lösung gefunden, den Stillstand auf eine der Situation zuträgliche Weise zu nutzen. Und bevor jetzt jemand „Pietätlos!“ ruft – geht für einen kurzen Moment in euch. Fragt euch, ob es leichter wird, wenn traumatisierte Hinterbliebene ohne eine Abschiedszeremonie dastehen, oder ob sie sich nicht doch besser fühlen, wenn sie sich immerhin vor dem Bildschirm versammeln und eine Art Andacht erleben dürfen.

Jede Zeit hat ihre Krise. Zu jedem Zeitpunkt des technischen Fortschritts. Niemals wird die virtuelle Welt echte, reale Eindrücke und Erfahrungen ersetzen können. Trotzdem: Gut, dass wir sie haben.

6 Antworten auf „Virtuelle Ersatzwelt

  1. Mir geht der technische Fortschritt zuweilen zu schnell, aber ich würde ihn dennoch nicht „verteufeln“. Ich habe viele Dinge schätzen gelernt und auf andere kann ich jedoch gut verzichten. z.B. E-Books: Viele Menschen schwören auf E- Books, weil sie eben alle Bücher immer bei sich haben können und es Platz spart. Ich hingegen brauche echte Bücher und kann mit E- Books überhaupt nichts anfangen. Und ich habe es sogar ausprobiert, aber E- Books und ich passen nicht zusammen. Dafür gibt es andere technische Erfindungen, die ich liebe. Nicht alle brauche ich- z.B. Alexa 😄Aber irgendwie finde ich sie doch ganz süß, wenn sie mir während des Kochens irgendetwas erzählt oder meine Lieblingsmusik abspielt.

    Die Idee von deinem Bekannten finde ich übrigens grandios, denn viele Menschen konnten leider während der Pandemie nicht trauern. Sie waren allein, obwohl es wichtig gewesen wäre Menschen um sich zu haben. Und da finde ich die Idee deines Bekannten klasse.

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    1. Gegen E-Books habe ich mich auch lange gewehrt – bis ich dessen Vorteile zu schätzen gelernt habe: Stichwort Platzersparnis! 😉 Aber manches lese ich auch lieber in gedruckter Form, da bin ich bei dir. Liebe Grüße!

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  2. Gut, dass es die virtuelle Welt gibt, sie habe ich auch zu schätzen gelernt. Erst während der Pandemie und nun über Distanzen. Trotzdem überfordert mich der technische Fortschritt häufig. Ich habe schon genug zu tun mit meinen viel zu schnellen Gedanken und Schlussfolgerungen. Diese auch noch mit den Instrumenten der modernen Arbeitswelt kommunizieren zu müssen, schafft mich.

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