Ich gebe zu, ich hatte Vorurteile.
Videospiele waren für mich aus eigener Erfahrung in jungen Jahren kleine Männchen, die lustig durch das Bild hüpfen, Dinge aufsammeln oder Angriffen ausweichen müssen. Später hatte ich den Eindruck, die Menschen würden Krieg spielen, sind Nerds, interessieren sich nicht für die reale Welt. Das war mein einziger Berührungspunkt mit Spielern, denn auch ich fühle mich stellenweise in meinen inneren (Fantasie-)Welten wohler und besser aufgehoben.
Als du mir gesagt hast, du willst mit mir spielen, bzw. mir diese deine Welt zeigen, war ich vorerst entzückt. Ich dachte daran, der Erkundung fremder Welten beizuwohnen, Abenteuer zu erleben, entspannt einer Heldenreise zuzusehen und mich inspirieren und beflügeln zu lassen. Das war Fehler Nummer eins.
Du gabst mir eine kleine Schonfrist mit Spielen, die linear verlaufen, dann durfte ich das erste sogenannte „Open World“-Spiel betreten – und plötzlich war alles anders.
Man glaubt nicht, wie grenzenlose Freiheit stressen kann. Wie sehr man an Vorgaben und fixen Strukturen hängt. Wie man, ich sag es ungern, geführt werden will. Wir reden immer über unsere Sehnsucht nach maximaler Freiheit, dem Wunsch, uns zu entfalten – und plötzlich erschlagen einen die Möglichkeiten; warum fühlt sich Komfortzone auf einmal so erstrebenswert an? Sätze wie „Wo gehen wir jetzt hin?“ oder „Was machen wir an dieser Stelle?“ sorgten für Adrenalin der nicht immer guten Sorte. Aber es sollte noch nicht der Gipfel der Herausforderung sein, denn dann kamen die Schreine und Dungeons von „Zelda“.
Ich war nicht gut in Mathematik, Physik oder analytisch-logischem Denken. Mein Reich waren die Philosophie, die Seele, das Träumen und das Schreiben. Das Mich-berühren-lassen. Dabei übersah ich, dass meine Kreativität und bestimmte Areale in meinem Gehirn, die lösungsorientiert arbeiten sollten, ein wenig eingerostet waren.
Meine Lehrer hielten mich für intelligent und sprachlich begabt, da wurde milde darüber hinweggesehen, dass bei Textaufgaben und anderen kniffligen Kopfnüssen eine schwarze Wand in meinem Gehirn aufzutauchen schien. Ich schlug drei Kreuze, als ich mich damit nicht mehr abmühen musste. Fortan machte ich einen gewaltigen Bogen um derlei Herausforderungen.
Bis du die damit verbundenen Emotionen wieder aus mir herausgezerrt hast. Ja, das ist das richtige Wort.
Ich ging auf Abwehr, verschloss mich, fuhr die vertraute schwarze (Schutz-?)Wand hoch, fühlte mich ausgeliefert, vorgeführt, blamiert, als hätte ich einen Flashback zur Schultafel, wo es darum ging, der Klasse mein Nichtvermögen in Sachen Logik zu präsentieren. Schlimm. Stellenweise wollte ich flüchten, aber du hast anscheinend mehr gespürt oder in mir gesehen, als ich selbst. Also blieb ich.
Nach und nach war ich imstande, die Aufgaben zu lösen, wenn auch nicht immer ohne deine Hilfe. Unvergesslich bleibt mein erster Erfolg für mich – ich musste weinen. Vor Freude, Stolz und dem Gefühl, mich selbst überwunden zu haben. Dafür danke ich dir. Manchmal ist man sich selbst der größte Widerstand.
Wer von euch meint, nur Filme oder Serien ließen einen weinen vor Rührung, der irrt. Ich war ebenfalls der Überzeugung, was kleine und große Jungs (die sind beim Spielen noch immer in der Überzahl) begeistert, könne so rührselig nicht sein – Denkfehler Nummer drei. Die Spiele vermögen es, in mir meinen besonderen Moment auszulösen, den ich schwer beschreiben kann – am ehesten als Symbiose aus Sehnsucht, Fernweh nach fremden Welten, Ankommen und Heimat. Die Geschichten sind kreativ und durchdacht, mir geht ganz oft das Herz auf.
Nebenbei ist es anspruchsvoll, Gehirnsport und bereichernd. Ich bin noch nicht gut, aber ich habe mich verbessert.
Ja, mir war nicht bewusst, worauf ich mich einlasse, als ich dir in diese Welt gefolgt bin. Wir haben uns während des Spielens manchmal zerfleischt, sind davongelaufen, wurden laut. Ich stand da mit meinen Traumata aus längst vergangenen Schultagen, und du hast sie mich noch einmal durchleben lassen. Doch dann haben wir miteinander geweint, waren gerührt, bezaubert und stolz. Und ab dem 12.05.2023 ist sowieso nichts mehr, wie es vorher war.
Das aber ist unser „Insider“, den erkläre ich an dieser Stelle nicht. 😉
Danke für diese Worte, die einen emotionalen Prozess beschreiben, den viele Spieler (absichtlich nur die männliche Form) kennen dürften. Die Ausprägung mag unterschiedlich stark sein – und viele von uns sind, nach Jahrzehnten des Spielens, vielleicht auch ein wenig abgestumpft oder nehmen es als alltäglich war – und doch ist es der Kern dessen, was wir empfinden, wenn wir eine dieser neuen Welten entdecken. Nur können (oder wollen?) wir es nicht in dieser Begeisterung ausdrücken und teilen. Das mag jenen vorbehalten sein, die es bisher nicht oder nur selten erlebt haben. 🙂
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Der Dank liegt auf meiner Seite, es ist interessant, die Sicht eines erfahrenen Spielers zu lesen, man selbst fühlt sich dabei ja wirklich teilweise unbeholfen. Aber dieses mein „Privileg“ der Unerfahrenen hat anscheinend seinen eigenen Wert, danke nochmal! 😉
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