Gedankensplitter

Stubenhockereigedanken

Im März vor drei Jahren fühlte ich mich wie in einer Zwischenwelt. Ich war weder im Krankenstand noch im Urlaub, aber ich ging nicht zur Arbeit. Wir hatten das Institut aufgrund des Coronavirus geschlossen und das für fast neun Wochen. Keiner wusste, was tatsächlich los war, geschweige denn, wie es in naher Zukunft weitergehen würde.

Urlaub, den wählt man freiwillig. Aber das war nicht der Fall. Ich erinnere mich an diese eigenartige Atmosphäre, die ich so nicht kannte. Es dauerte eine Weile, bis ich in der freien Zeit ankam, ohne den Drang, etwas tun zu müssen. Man fühlte sich ziellos, keiner hatte einen Plan. Ich gestehe, ich mochte diesen Ausnahmezustand. Ich begann nicht nur, die Tage zu genießen, ich begann, sie nach meinen Vorstellungen zu gestalten – und das frei von störenden Außeneinflüssen. Die anderen waren immerhin ebenfalls isoliert. Noch dazu war es eine aufregende Zeit, ähnlich wie in einem Film mit Endzeitszenario … zumindest vorerst. Was an Absurditäten noch folgen sollte, konnte zu damals niemand ahnen.
Für viele mag es schwer nachvollziehbar sein, aber auch Wetterwarnungen lösen ein solches Gefühl von Aufregung in mir aus. Beispielsweise, wenn starke Gewitter oder Stürme angekündigt werden. Es ist, als wäre ein Teil von mir fasziniert von der Gefahr des Unbekannten, der Macht der Natur.

Wie oft, wenn die Arbeit stresst, wünscht man sich eine Auszeit? Vor drei Jahren fühlte sich dieses Geschenk erst fremd, dann aber immer besser an. Mein gewohnter Lebensstil schien auf einmal salonfähig geworden zu sein! Die Art, mein Leben zu führen, war mitten in der Gesellschaft angekommen, obschon nicht von allen begrüßt oder geliebt.

Ja, ich bin eine passionierte Stubenhockerin. Das traute ich mich vorher gar nicht laut zu sagen. In Zeiten des dauerhaften Freizeitentertainments ist das gefühlt nämlich eher eine aussterbende Spezies. Mir jedoch war noch nie im Leben langweilig, schon gar nicht daheim. Da noch eher in lauten Runden mit null Gesprächsinhalt oder -tiefe. Ich hatte noch nie ein Problem damit, mit mir allein zu sein oder nur die Handvoll Menschen zu sehen, die zu meinem engsten Kreis gehören.
Es gab Bücher, die ich endlich in die Hand nahm. Ich guckte Filme und Serien, die ich vor Monaten aufgezeichnet hatte. Ich telefonierte mit Freunden – jeder hatte sehr viel Zeit – schrieb E-Mails oder Texte. Mein Kühlschrank war voll, mein Zimmer warm. Zwischendurch machte ich Qigong oder meditierte. Quarantäne 2.0 hatte schon eine andere Qualität als im vorigen Jahrtausend.
Für mich persönlich hatte sich außer dem Mehr an Zeit wenig geändert. Der Unterschied war, dass ich damit auf einmal nicht mehr allein dastand. Selbst die extrovertiertesten Vertreter unserer Gattung taten es mir gleich – wobei man immer wieder mitbekam, wie schwer es den Leuten doch fiel. Ich verstehe, dass jemand etwas nicht genießen kann, wenn er dazu verdonnert wird. Allerdings war jedem bewusst, dass das nicht zum Dauerzustand werden würde. Das war gar nicht möglich. Man hätte also auch das Beste daraus machen können. Es war deutlich zu sehen, wie viele Menschen für gewöhnlich auf der Flucht vor ihrem eigenen Leben waren, sodass sich schon ein paar Wochen ohne Ablenkung von außen unerträglich anfühlten.

Ich erinnere mich an den wahnsinnig schönen Frühling 2020, in dem die Natur richtig Gas gab: Wolkenloser, blauer Himmel, Sonnenschein, milde Temperaturen, lautstark zwitschernde Vögel – alles lud dazu ein, nach draußen zu streben.
Frei bewegen durften sich einzig die Tiere. Und dabei wurden sie von niemandem gestört. Ich habe es ihnen von Herzen gegönnt. Gerade im Frühling wird viel Wild überfahren, weil die Menschen in ihren Autos durch dessen Lebensraum brettern.
Die Natur durfte ihren Frühling ganz für sich alleine genießen, ohne dass die Massen nach draußen strömten und die Anmut, die diese Jahreszeit ausstrahlt, zertrampelten. Beim ersten Sonnenstrahl beginnt bekanntlich der Herdentrieb ins Freie, der gehörte 2020 jedoch den Tieren. Man fotografierte Rehe, die sich bis an die Türen der Geschäfte im Designer-Outletcenter wagten; ich hätte weinen können vor Freude. Die Szenerie hatte fast etwas von einem Lost Place, nur der Rahmen war etwas zu gepflegt dafür.

Mich beschlich damals, während ich mich zu Hause einigelte, der Gedanke: Hat die Erde am Ende ihr Gegenmittel für den Virus namens „Mensch“ gefunden? Nein, das hatte sie natürlich nicht. Wir kriegen sicher noch eine Chance – das tun wir immer. Es wäre toll, würden wir endlich einmal eine davon nutzen.
Entsorgen wir unsere Riesenegos, die Besitz- und die Machtgier. Lernen wir, zufrieden zu sein, und entrümpeln wir unser Leben. Weg mit all dem Ballast. Vielleicht entdeckt dadurch der eine oder andere die Qualität des Rückzugs. Diesmal freiwillig.

2 Kommentare zu „Stubenhockereigedanken

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