Aus dem wundervollen Film „Die Eleganz der Madame Michel“ hat mich die Aussage einer elfjährigen Hochbegabten zu folgendem Text inspiriert. Sie lautete wie folgt: „Nur die Psychologie kann es mit den Religionen aufnehmen, was die Liebe zu langem Leiden angeht.“
Es ist unbestritten, dass der Mensch eine gewisse Passion fürs Leiden hegt. Sogar der Begriff selbst zeugt davon. Die Ursachen hierfür sind mannigfaltig. In jüngster Zeit verdichten sich wissenschaftliche Belege, dass nicht nur Gene, Aussehen und Krankheiten vererbt werden können, sondern auch seelische Traumata aus vergangenen Generationen unserer Familien. Die Überlegung, sich der eigenen Seele zuzuwenden, bevor man sich für neues Leben entscheidet, zahlt sich also wahrscheinlich aus. Ich glaube, reflektierte Eltern machen einiges richtig.
Weiters ist es kein Geheimnis, dass wir von Kindesbeinen an mit Glaubenssätzen gefüttert werden. Im schlimmsten Fall wird uns eingetrichtert, dass Leid notwendig ist, um zu einem charakterstarken Menschen heranzureifen; dass man Mühsal auf sich nehmen muss, um etwas geleistet zu haben. Die Beine hochlegen und Müßiggang betreiben in der Annahme, wir hätten Glück verdient – wo kämen wir denn da hin?
Mir fallen dazu noch andere Überlegungen ein.
Kann es sein, dass wir in der westlichen Wohlstandswelt Leid als karmischen Ausgleich suchen? Hierzulande wirken Kirchenschiffe und Glaubensinhalte bedrohlich und düster und teils recht fragwürdig. Der Mensch als Sünder und Reuiger, damit kann ich wenig anfangen. Vielleicht wollen wir ein bisschen Buße tun, weil es uns zu gut geht. Vielleicht wollen wir die Seele, die im Kapitalismus lebt wie die Made im Speck, ein wenig erleuchten und reinigen – und was eignet sich dafür besser als eine gesunde Portion Leid? Ich weiß, der Gedanke klingt absurd, trotzdem hing ich ihm eine Weile nach …
Oder ist Leiden womöglich einfach nur schick? Durch Leid, das man etwas in die Länge zieht, gelangt man schließlich zu Aufmerksamkeit.
Mir ist wichtig zu betonen, dass ich hier alle wirklich traumatisierten Menschen, die Gewalt oder harten Schicksalsschlägen zum Opfer fielen, ausnehmen will und mich nicht erdreiste, über diese Form des Leidens zu urteilen.
Vielmehr dachte ich an jene, die eine gewisse Prise Qual brauchen, um sich zu spüren – im Volksmund auch Dramaqueen genannt. An jene, die unter der Weltenlast zusammenbrechen und sich seufzend an die Stirn fassen. Denn wodurch bekommt man mehr Liebe und Zuwendung geschenkt als durch den theatralischen Auftritt?
Berufsbedingt lerne ich immer wieder Menschen kennen, die nahezu beleidigt sind, wenn man ihnen geholfen hat. Mit den Schmerzen nimmt man ihnen auch ein Stück Lebensgefühl, etwas, worüber sie sich definieren. Sie scheinen fast zärtlich mit ihrem Leiden verbunden zu sein. Oft sind sich diese Menschen dessen noch nicht einmal bewusst.
Trotz allem will ich den Einfluss der Dualität nicht kleinreden. Eine winzige Prise Leid würzt das Gefühl des Glücks. Wie lange wir uns dem Leid aussetzen, das liegt in den meisten Fällen jedoch in unserer Hand.
Vielleicht brauchen wir gar keine jahrzehntelange Psychoanalyse. Lest Geschichten, nutzt die magische Kraft der Worte – ich bin noch immer überzeugt, dass Bücher Leben retten können …
Drama-Queen … ich nenne es Scheiße hält warm. Vertrautes, gemütliches Elend ist oft immer noch leichter zu tragen als die Angst vor Neuem. Meiner Erfahung nach kippt das irgendwann, wenn das Leid ein Ausmaß erreicht hat, dass die Angst klein werden lässt. Dann kann Veränderung geschehen.
Mir gibt es unglaublich viel, an etwas zu glauben.
Liebe Grüße dir, Reiner.
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Dem kann ich kaum widersprechen. 🙂 Und dein letzter Satz fällt bei mir auf fruchtbaren Boden. Liebe Grüße!
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