Wir alle essen zu geschmacksverstärkt, überwürzt und nur noch, um unsere Sinne zu betören. Kaum jemand isst, um seinen Körper mit Nährstoffen zu versorgen. Manche sagen, sie kennen das Gefühl von Hunger gar nicht mehr, denn die Verfügbarkeit von Snacks lässt dies kaum noch aufkommen. Es geht um den (übertriebenen) Geschmack, um den Genuss des Moments. Was mit der „Nahrung“ dann ein paar Etagen tiefer passiert, interessiert nicht länger sonderlich.
Damit will ich natürlich nicht den Genuss von Essen schlechtreden, ganz im Gegenteil. Gerade unsere feinen Sinnesorgane können wir nutzen, um noch einmal zu entdecken, wie unsere Speisen in Zeiten vor industrialisierter Fertignahrung geschmeckt haben. In Zeiten, in denen sie noch nicht mit Zusatzstoffen überladen waren. In der Ayurveda versteht man Nahrung als Medizin, die dem Körper all das zuführt, was er braucht und chemische Arzneimittel somit im besten Fall überflüssig macht.
Ich habe von einer Methode gehört, mithilfe derer die Menschen wieder lernen, den Eigengeschmack von unverarbeiteten Lebensmitteln zu erfassen, ohne dass Zusatzstoffe die Nase und Geschmacksknospen völlig überreizen: Man lässt sie erst an den Nahrungsmitteln riechen.
Die Nase ist ein äußerst feinfühliges Organ und macht außerdem den Appetit. Mit Gurken wird begonnen, denn diese verfügen über ein ausgesprochen intensives Geruchsaroma; nicht umsonst verfeinert man damit so manches Getränk. Es folgen Melonen, dann Tomaten. So geht es stetig weiter. Erst wenn ausgiebig an den Nahrungsmitteln gerochen wurde, wird ein Bissen davon genommen. Die Teilnehmer sprechen durch die Bank von einer wahren Geschmacksexplosion im Mund.
Randnotiz: Manche Covid-Patienten, die den Geruchs- und/oder Geschmackssinn verloren haben, lernen auf ähnliche Art und Weise, wieder zu schmecken. Hier wird die Übung um die Aktivierung von Erinnerungen an Aromen erweitert. Das Gehirn kann unsere Sinne aufgrund der langjährigen Erfahrung nämlich reaktivieren. Wir haben beispielsweise abgespeichert, wie eine Banane schmeckt.
Weil es meistens schnell gehen muss, essen wir in der Regel zu unachtsam. Einfach, um das Magenknurren abzustellen, der Unterzuckerung entgegenzuwirken und rasch ein Sättigungsgefühl zu erreichen. Gleichzeitig soll es noch richtig intensiv schmecken. Von Genuss lässt sich da wohl schwerlich reden.
Nahrung sollte mit Liebe ausgesucht werden. Dankbarkeit beim Zubereiten schadet ebenfalls nicht. Es ist ein Privileg, überhaupt essen zu können; Überfluss war noch unseren Großeltern völlig fremd.
Im Idealfall lässt man sich an einem Tisch nieder und isst nicht im Stehen, unterwegs oder während der Arbeit. Es sollte selbstverständlich sein, dass man sich die Mühe macht, die Mahlzeit zu betrachten, ihren Duft wahrzunehmen, ganz langsam zu kauen und wirklich zu schmecken. Wenn wir schlingen, als würde uns der Nachbar etwas stehlen wollen, erwürgen wir stattdessen unsere Speiseröhre. Manches Gericht, das ich anfangs langweilig fand oder sogar ablehnte, entdeckte ich durch diese Achtsamkeit ganz neu.
Es existieren nicht nur Salz, Pfeffer, Zwiebel und Ketchup. Es gibt wundervolle Kräuter. Zitrone ist ein wahres Geschmackswunder, wenn es pikant sein soll. Man kann sich in das Thema einlesen und wird überrascht sein, was alles zur Verfügung steht.
Von Verzicht kann keinesfalls gesprochen werden, wenn wir uns mit einfachem, aber gut zubereitetem Essen versorgen und nicht mit überfrachtetem Fast Food. Gegen Ausnahmen ist nichts einzuwenden, aber Fettleibigkeit ist ein ernstzunehmendes Problem unserer Wohlstandsgesellschaft. Gefördert wird dieses Problem durch das allgemeine Essverhalten, weshalb es meiner Meinung nach direkt angesprochen gehört. Das hat nichts mit Bodyshaming zu tun, sondern schlicht und ergreifend mit der Gefährdung der eigenen Gesundheit.
Adipositas führt in den meisten Fällen zu Bewegungsarmut, wodurch das Gesundheitssystem auf Ebenen strapaziert wird, wo es sich vermeiden ließe. Ich finde es fahrlässig, dass bereits Kinder zu maßlosem Genuss ermutigt werden.
Das Thema Ethik bei der Nahrungsaufnahme lasse ich für den Moment außen vor, das würde am Grundthema vorbeigehen. Einen netten Nebeneffekt hat es mit Sicherheit trotzdem, Kindern schon frühzeitig wahren Genuss (der sich durchaus auch fern von McDonald’s finden lässt) näherzubringen.
Es verhält sich hier wie in so vielen Bereichen des Lebens, wir haben Schlichtheit verlernt. Ein einfaches Butterbrot reicht nicht mehr, wir wollen Abwechslung und immer Ausgefalleneres auf dem Teller sehen. Die Tageskarte darf sich unter keinen Umständen wiederholen. Warum eigentlich nicht?
Also: Nase zur Hilfe nehmen, Rückbesinnung darauf, woher das Essen stammt und wie reich uns die Natur beschenkt, und dann wahren Genuss erleben. Im Übrigen fühlt sich der Magen am wohlsten, wenn er nach jeder Mahlzeit nur zu drei Viertel gefüllt ist.
Ganz unter uns … so bleibt auch noch genügend Platz für ein kleines Stück Schokolade. 😉