Gedankensplitter

Himmelsfreund

Als ich dich im Wartezimmer aufrief, überraschten mich als Erstes deine Augen. Ich hatte noch niemals zuvor ein vergleichbares Blau gesehen. Das war eine Nuance zwischen Kornblumen und dem Meer.

Monate gingen ins Land – wir kannten uns nun schon wirklich gut – und dein Verhalten mir gegenüber veränderte sich. Um es altmodisch auszudrücken: Du machtest mir den Hof.
Dieses Ziel hast du mit einer Hartnäckigkeit und Hingabe verfolgt, dass mein Herz nicht anders konnte, als seinen anfänglichen Widerstand aufzugeben. Wie lange kann man den süßesten Nachrichten und selbstgepflückten Feldblumen, die noch vor dir durch meine Praxistür kamen, widerstehen? Hat ein Mensch sich jemals so sehr um mich bemüht? Ich fühlte mich wertgeschätzt, begehrt und geliebt – vielleicht war von Anfang an klar, dass das danach für eine lange Durststrecke würde reichen müssen …

Am Neujahrstag 2002 hast du mich verlassen. Nicht einfach wegen banaler irdischer Dinge wie Entfremdung, Gedanken des Zweifels oder gar einer anderen Frau. Das hätte überhaupt nicht zu dir gepasst. Du warst wunderschön, außen wie innen. Egal, wie lange wir uns schon kannten und schließlich ein Paar waren – du hattest die Gabe, mich auch noch nach Monaten anzusehen, als würdest du mich zum ersten Mal in deinem Leben wahrnehmen. Von all den kleinen, verrückten Überraschungen und Aufmerksamkeiten fange ich gar nicht erst an, das würde den Rahmen sprengen. Die Menschen hatten uns gern um sich; sie meinten, wir beide wären ein Erlebnis.
Nein, du hast nicht Schluss gemacht. Stattdessen hast du gleich das Leben, die Erde, den Körper verlassen, hast dich mit einem großen Knall von diesem Planeten verabschiedet. Ich dachte immer, solche Unfälle würden bloß anderen passieren – aber doch nicht dir.
Als ich die Nachricht erhielt, erstarrte etwas in mir zu Eis. Dieser Kristall sorgt nach wie vor dafür, dass ich in Sachen Liebe einiges aushalten kann. Genauso wie bei Angriff, Verletzungen oder auch, was Ausdauer betrifft. Der Atemzug, den ich damals nahm, der versorgt mich noch heute in sauerstoffarmem Gebiet.

In der Zeit nach deinem Tod sind Dinge passiert, die sich niemand erklären konnte und die mir den Glauben an Wunder zurückbrachten. Dafür danke ich dir. Von allen Geschenken an mich war das das wertvollste. Aber hey, du weißt, ich liebte diese armseligen, selbstgepflückten Blumen, die ohne Wasserversorgung ihre Köpfchen hängen ließen, bis ich mich ihrer annahm.

Lange danach habe ich einen Text verfasst, einen Brief an meinen Himmelsfreund, und ich wusste, ich würde genau einmal daraus lesen. Dies geschah auf der Präsentation meines ersten Buches. Im Saal war es so still, dass ich die Leute atmen hören konnte. Viele kauften sich mein Buch nur, weil sie sich diesen Text darin erhofften – doch ihn werde ich niemals veröffentlichen. Eine Passage daraus schenke ich euch, dann verschließe ich ihn wieder sorgfältig:
Kommst du manchmal in der Nacht und bewachst meine Träume, wenn sie schlecht zu werden drohen?
Siehst du meinen Engel, wenn er mich hält im Schlaf?

Kann, was so leicht und magisch begann, auf einmal schwer werden?
Wie mache ich richtig, was auf den falschen Weg geraten ist?

Muss gar nicht sein, dich zu berühren, aber dich reden hören, wie du sagst, dass alles gut ist.“

In den letzten Tagen hatte ich viele Gespräche über den Sinn des Lebens, die Seelenaufgabe und was man hinterlassen soll oder will, wenn man geht. Ich wusste schon immer um meine Vision – und niemals wird sie mir verloren gehen. Ist der Weg leichter geworden? Das ist nicht die Frage. Es geht um eine Entscheidung, die man trifft.

Auf einer der unzähligen Autofahrten, bei denen ich ohne Ziel durch die Landschaft fuhr und tränenblind für den Augenblick überleben wollte, da habe ich dir, lieber Jochen, etwas versprochen.
Ich würde nicht aufgeben, sondern nach der wahren Liebe suchen – und dann würde ich nicht kneifen. Egal, wie sie sich zeigen würde.
Was soll ich dir sagen? Ich habe Wort gehalten.

12 Kommentare zu „Himmelsfreund

  1. Danke für das Teilen deiner Gedanken, deiner Zeilen, deiner Gefühle. Sehr berührend! Eigentlich wollte ich das Nachhallen deiner Worte in meinem Herzen mit einem Kommentar nicht zerstören, dennoch konnte ich nicht anders…….

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  2. Ich bin berührt, liebe Heidi – danke, dass Du diesen Zeilen gerade zur Weihnachtszeit mit uns teilst.
    Vergessen, die Hektik..oder Gedanken über Geschenke etc….

    Hier finde ich das passende Geschenk: DIE LIEBE ❤️

    Gefällt 1 Person

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