Gedankensplitter

Grauzonen

In Zeiten, als der Herbst sich noch als solcher zeigte und nicht den Frühling nachahmte, hörte man die Leute oft jammern, wie grau die Tage doch wären. Antriebsloskeit machte sich breit, fast konnte einen die Melancholie zu fassen kriegen. Ich traute mich kaum zu entgegnen, wie wohl ich mich inmitten dieser Nebelschwaden fühle; wie geborgen in meiner Innenwelt, nicht gehetzt von Sonnenstrahlen, die mich unbedingt ins Freie locken wollen.

Das Wetter, wenn es mal Grau tragen will, hat keinen leichten Stand. Wie schade, dass Menschen der Witterung im Außen weit mehr Beachtung schenken als der in ihrem Inneren. Einfach mal lächeln an einem Nebeltag, wenn die Tröpfchen einem ins Gesicht sprühen, und den buntesten Mantel anziehen. Manchmal mag sich die Sonne eben ihre Wolken wie eine Stola umlegen und auf Grande Dame machen – mysteriös und unnahbar. Wie stilvoll!

Leute, die graue Kleider tragen, werden zu Unrecht als farblos und langweilig eingeschätzt, denn es zeugt von Mut, sich nicht andauernd hinter grellen Farben zu verbergen. Trag Schwarz, Grau oder Weiß und du mitsamt deiner Persönlichkeit rückst in den Vordergrund. Trag Quietschbunt und dein Outfit trägt dich. Schwarz ist Kunst, ist Boheme, Grau ist die abgemilderte Form davon, sanfter und weichgezeichnet.

In Grautönen gehaltene Wohnungen mit nur vereinzelten Farbtupfern unterstellen dem Hausbesitzer sogleich emotionale Kühle, bar jeder Gemütlichkeit. Ich würde jenen Stil eher zeitlos nennen. Die Farbtupfer kannst du nämlich jederzeit nach momentanem Gusto ändern.

In einem Heim habe ich mich einmal hinreißen lassen, alles in Rot, Orange und Gelb einzurichten. Man sagte mir, das sei „wahnsinnig freundlich“. Inmitten dieser Oase, wo die Sonne aus dem Wohnzimmer zu strahlen schien, fand man dieses fade grau-/weiß-geflieste Bad. So ein Spaßverderber aber auch.
Bereits nach einem Jahr hatten sich meine Augen an dem Farbenrausch sattgesehen. Nur mein Bad, dieses unaufdringliche, das mochte ich noch immer, bot es doch jeder anderen Farbe die perfekte Bühne.

Die Dinge immer nur schwarz-weiß zu betrachten ist einseitig und anstrengend. Dazwischen liegt nämlich eine mächtige Zone der Schattierungen, in der sich unglaublich viel Entdeckenswertes verbirgt. Alles, was es braucht, ist ein wenig Flexibilität.
Menschen, die immer wieder zwischen Euphorie und Depression schwanken, wissen darum, dass eine Grauzone unter anderem Entspannung und Zufriedenheit bergen kann. Grau hat einen viel zu langweiligen Ruf. Für manche Menschen gleicht es glatt der EKG Nulllinie. Ich hingegen glaube, in Wahrheit ist unser Geist im Grau zu Hause.

Was soll ich sagen? Bevor ihr das nächste Mal ein hartes Urteil über die kleine Schwester der Farbe Schwarz fällt, bedenkt, dass Grau bloß unpoliertes Silber ist.

Es braucht nicht viel, schon beginnt es zu funkeln.

11 Kommentare zu „Grauzonen

  1. Insbesondere der erste Absatz entspricht auch sehr meinem Empfinden. Danke dafür! Ich mochte den Herbst, so wie er war, auch immer sehr. Mit Grau und Nebel und wenig Menschen auf der Straße. Nach der „Hektik“ des Sommers hat mir das immer sehr gut getan und war Zeit zum Durchatmen. Jetzt, da es immer noch fast die ganze Zeit sonnig und vor allem warm ist (an den Abenden ist es hier immer noch ähnlich trubelig wie an Sommerabenden), vermisse ich diesen Herbst umso mehr und hoffe, dass es im November endlich grauer und kühler wird. (Ich traue mich das anderen gegenüber gar nicht mehr zu äußern, weil ich da immer schräg angeschaut werde 😉

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    1. DANKE für diesen Kommentar. Du sprichst mir damit aus der Seele. Ich mach das dann andersrum: Ich gucke die schräg an, die diesen sonderbaren „Frühlingsherbst“ so feiern! 😉 Ja, ich vermisse das auch, Nebel, Mystik, den Beginn der dunklen Tage …

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  2. Sehr interessante und inspirierende Gedanken zu grau. Ein unpoliertes Silber – ein schönes Bild.
    Ich finde Nebel und das Grau gar nicht so schlimm.
    Ich war kürzlich im Wald unterwegs, schwarze Laufklamotten, Nebelschwaden, die immer wieder zwischen den Bäumen umher waberten. Wir schön ist es da, buntes Herbstlaub und den rot leuchtenden Hagebuttenstrauch anschauen zu dürfen.
    Liebe Grüsse und einen schönen Sonntag
    Thomas

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  3. Ich mag die Melancholie, daher ist der graue Herbst mir Freund im Herzen. Ich besitze fast ausschließlich, Kleider aus der Farbpalette, alles zwischen Schwarz und Weiß. Nicht um meine Persönlichkeit nach außen zu tragen, um zu zeigen, das meine Persönlichkeit frei ist um zu wählen. Bunt mag nicht Grau, aber Grau mag alle Farben. Laut hört nicht leise, aber Leise versteht alle Töne. Hass versteht nicht Liebe, aber Liebe versteht jede Gefühlsregung. Es gibt Pole, von denen aus man, das Leben versteht und es gibt Pole, die haben das Verstehen verloren oder nie besessen. Sehr inspirierender Artikel. Danke dafür.

    Gefällt 3 Personen

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