Viel zu selten habe ich dich in letzter Zeit besucht. Wann habe ich dir das letzte Mal gesagt, dass ich dich liebe? Du bist zu lange an meiner Seite, sodass ich mich in unverzeihlicher Selbstverständlichkeit verloren habe. Glaube mir, du wirst mir niemals Gewohnheit sein, dein vermeintlich stilles Wasser vermag hohe Wellen in mir zu schlagen.
Darf ich dich meinen See nennen? Ich denke schon, bin ich doch an deinen Ufern aufgewachsen. Ich nenne sie in der Mehrzahl, verteilst du sie doch großzügig über viele Orte, ja, Länder. Giltst als der größte deiner Art in Europa.
Die, die sich lustig machen über deine fehlende Tiefe, die bringst du mit deiner Weite zum Schweigen. Wenn sie das erste Mal eine Drehung um die eigene Achse machen müssen, um dich ganz zu erfassen, dann sind sie auf einmal still. Man hat dich zum Großteil unter Naturschutz gestellt, was mich aufatmen lässt. Nichts anderes hast du verdient, ich hoffe, du bleibst unantastbar.
Du wirkst zumeist ruhig und harmlos, aber ich habe dich auch schon aufgebracht und wütend erlebt, da bin ich dir ausgewichen. Das Element Wasser ringt mir generell Respekt ab, als eher luftiges Wesen schaue ich mir gewisse Dinge lieber von oben an.
Nur lässt du mich damit selten davonkommen. Warum bist du es, der mich so oft zur Innenschau drängt, in deiner sanften Gewalt? Klar, wir hatten Spaß in deinen Wellen, wir haben dich als romantische Kulisse herangezogen, als Fotomotiv für Freunde aus dem Ausland oder als Profilbild. Doch am intensivsten waren immer die Augenblicke, wo ich alleine an deinem Ufer saß, den Leuchtturm im Rücken. Nur einen Teil von dir kann mein Auge erfassen, aber der ist so majestätisch präsent, um an mir zu ziehen. Ich habe hunderte Ausdrucksalternativen gesucht, lande immer wieder da: Du ziehst an mir.
Wie oft wollte ich dem ausweichen, nicht hinsehen, weglaufen, verdrängen, dir den Rücken zuwenden? Schließlich zwingst du mich zu gar nichts, und gerade das macht es so schwer, dich dann zu ignorieren. Beziehungsweise die Dinge, an denen du ziehst.
Du willst, dass ich Innenschau halte, aufräume in mir, prüfe, ob der Platz, an dem ich stehe, noch oder gerade der richtige für mich ist. Das ist das Eine. Du gibst dich damit nicht zufrieden, mir keine Ruhe und bohrst weiter. Schaust mich mit deiner unschuldig silbrigen Oberfläche an und stellst mir stille Fragen:
Träumst du noch? Spürst du deine Sehnsüchte? Verbirgst du etwas vor dir oder der Welt? Lehnst du Wünsche in dir ab, die gehört werden wollen? Schaust du hin? Läufst du weg vor Dingen oder Menschen, weil sie dir Angst machen, weil du Angst vor dem Glück hast?
Kannst du dieser Sehnsucht einen Namen geben, was ist es, wonach du dich sehnst? Nach einem Punkt in ferner Zukunft? Nach dir selbst oder gar nach den Ufern stiller Seen in einem anderen Land?
Mein See, du darfst das fragen, du bist meine Heimat, nicht nur im Außen. Ich verspreche dir, dein Ziehen an mir bleibt nicht unerhört. Ich werde mutig sein und schwimmen.
Sehr schön! Vor allem wenn man ihn gut kennt.
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Was für ein schöner Text!
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Vielen Dank, das freut mich!
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Was für eine Liebeserklärung an den Ort, an dem ganz bei sich ist…wunderschön
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Danke, ich konnte nicht anders. 🙂
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Das ist eine sehr schöne Liebeserklärung an ein großes Wasser ❤
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Vielen Dank! 🙂 Vor allem weites Wasser.
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