Heute ist das Fussball EM-Finale. Bald beginnen die olympischen Spiele. Eigentlich ist die Pandemie ja noch nicht abgeschafft, vor über einem Monat durften einander noch maximal fünf oder vielleicht sechs Menschen besuchen, was nahezu absurd wirkt in Anbetracht des fast gefüllten Wembley Stadions. Aber man muss ja nicht alles verstehen, sich darüber auch noch Gedanken zu machen…
Trotzdem gingen mir manche durch den Kopf:
Es ist immer wieder erstaunlich und ringt einem doch auch Respekt ab, wie dieser kleine Ball die Massen zu wahrer Hysterie und Begeisterung bewegen kann.
Mir fällt spontan nichts Vergleichbares ein, was einen ähnlich kollektiven Wahnsinn erzeugen könnte. Man stelle sich vor, jemand veranstaltet eine Lese-WM. Wie würde da da die Eröffnungsfeier aussehen? Jennifer Lopez wird man wohl eher nicht dafür kriegen. Oder wissen mehr als drei Menschen in eurem Umkreis, wann die nächste Schachweltmeisterschaft staffindet? Ich selber auch nicht.
Fussball hat so etwas Archaisches an sich. Männer und auch immer mehr Frauen hocken in Gruppen zusammen, da wird auf Etikette gepfiffen, laut und polternd geht es zur Sache. Man ist fasziniert von den mitunter rohen Kämpfen und der geballten Männlichkeit, ein teilweise wildes Schauspiel. Ich gestehe, ich verfolge das lieber aus sicherer Entfernung, wenn überhaupt.
Möglicherweise ist es das, was den Menschen gut tut, was sie dazu hin zieht. Kontrolle und gute Erziehung können losgelassen werden, Gefühle dürfen nun ungehindert fließen, vorbei an der Kopfschranke des noch Zumutbaren. Da ist Männern erlaubt zu weinen, wenn die eigene Mannschaft verliert oder auch gewinnt, Frauen dürfen wählen: Wollen wir selbst spielen oder die Spielerfrau geben? Ohne dass die Feminismus-Polizei anrückt.
Es erweckt den Schein, von dem ich mich gerne blenden lasse, dass zumindest während des Wettkampfes so etwas wie Einigkeit herrscht, Nationen, die einander näher kommen in der Freude des Kräftemessens und des Spiels. Man kann fühlen, dass in diesen Wochen die Zuschauer ähnliche Gefühle spazieren tragen, hervorragend zu beobachten an den Public Viewings, wo vielleicht jemand nicht aufgrund seiner Sportbegeisterung anwesend ist, sondern dieses gemeinschaftliche Gefühl inhalieren, die Verbindung mit eigentlich fremden Menschen spüren will, die einem seltsam vertraut erscheinen. Manchmal ist es egal, in welchen Armen man liegt, wenn der Euphoriepegel hoch ausschlägt. Berührung ist eine Droge.
Bald startet Olympia, aber unter weit strengeren Pandemievorkehrungen als die EM. Irgendwem scheint es doch noch aufgefallen zu sein. Ich bin sicher, dass viele sich nur die bombastische Eröffnungsfeier ansehen.
Eine große Show der Superlative, Brimborium ohne Ende, Millionen, die da für 14 Tage Spektakel zu unserem Entertainment verstreut werden. Vor allem sollte man gegen die letzte Eröffnung nicht abstinken, die das vorherige Austragungsland auf die Beine gestellt hat. Diesen Anspruch hat sogar der Eurovisions Song Contest. Während die Fussballer richtige Popstars sind, kennt man olympische Athleten kaum. (Ich muss schon wieder an die Lese- oder Schach-WM denken…) Zu Urzeiten der Sportgeschichte waren sie Helden, junge und sportlich talentierte Menschen, die im Wettkampf gegeneinander antraten, gefeiert von der Welt und ihrer Heimat. Aber wird sich heuer noch jemand an die Namen der Medaillengewinner*innen erinnern? Vielleicht noch derer in GOLD. Man will glauben, ja ich will das auch, dass es immer fair zugeht, Doping kein Thema ist und sich das Rad der Geldmaschinerie nicht auch fröhlich durch Olympia dreht. Was wäre der Sport ohne Illusionen? Veranstaltungen brauchen Illusionen. Menschen brauchen Illusionen, an der Wahrheit zerschellt man so leicht.
Erinnern werden wir uns an das Showspektakel, an Skandale rund um die Spiele, wie viele Infizierte es nach sich gezogen hat und welche Spielerfrau sich von ihrem Helden getrennt hat.
Aber vielleicht erinnern wir uns auch an diesen Hauch von Hoffnung, dass es doch etwas gibt, dass uns Menschen eint, das Nähe möglich macht und den Gefühlen eine Straße legt, ohne sich für sie schämen zu müssen, sie aus Angst vor Ecken dauernd in Watte packen zu müssen. Wir es, wenn wir ganz mutig sind, auch noch nach diesem Sommer wagen, sie ab und zu an die frische Luft zu lassen.
In diesem Sinne: Mögen die Spiele beginnen.