Haben wir verlernt, das Leben zu leben? Also so richtig, mit Courage, Neugier und Forscherdrang? Einfach drauflos, mit unserem Herzen als Kompass und dem Bauch als Führer? Moment … als Führer? Darf ich meine Intuition überhaupt als Führer bezeichnen? Andererseits, existieren denn noch Wörter, die keinen Trigger darstellen und gleich zehn Leute empören, in einer Zeit, in der Empörung längst zur Lieblingsemotion der Menschheit wurde?
In psychologischen Kreisen ist ja weitgehend bekannt, dass die Opferrolle eine bequeme ist – weil man sich durch diese aus der Verantwortung stehlen kann. Ich habe das Gefühl, heutzutage empfindet sich jeder als Opfer von irgendetwas oder irgendwem. Findet ihr das nicht anstrengend? Ich schon. Und weil es die Menschen nicht mehr dürfen, ohne dass sie gebrandmarkt und in eine Ecke gedrängt werden, gestatte ich jetzt wenigstens meinen Gedanken, frei zu fließen.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine derart unentspannte Grundhaltung Heranwachsende dazu treibt, auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt nur mehr das Hirn einzusetzen. Bevor sie also entscheiden, was sie ausmacht und was ihnen entspricht, stehen schon Bedenken im Raum: Man könnte anecken, jemandem nicht passen, sich am falschen Pol ansiedeln oder sich unbeliebt machen und damit einen Shitstorm riskieren. Man könnte falsch eingeschätzt, ausgegrenzt oder niedergemacht werden, im schlimmsten Fall gar einen überholten Ernährungsstil pflegen, eine Plastikzahnbürste benutzen oder vergessen zu gendern. Letztens habe ich eine Sendung gesehen, deren Moderatoren andauernd von „Künstler-[Pause]-innen“, „Musiker-[Pause]-innen“ etc. redeten. Das klang für mich nicht nach Inklusion, sondern nach Sprachfehler. Ich konnte mich auf nichts anderes mehr konzentrieren als auf diese kurze Pause und das betonte I, was mich beständig zum Lachen reizte. Ich war völlig abgelenkt von der dargebotenen Kunst, so unangenehm in den Vordergrund gestellt wurde das: „Guckt mal, wie zeitgemäß wir sind!“ Liebe Damen und Herren, wenn schon, dann macht euch bitte die Mühe, „Künstler und Künstlerinnen“ in voller Länge auszusprechen. So viel Zeit muss sein … aber das nur als Randbemerkung.
Ihr lebt auf jeden Fall gefährlich, ihr Sinnsucher, wenn ihr nicht Applaus spendet, wo die Gesellschaft ihn verlangt. Die einzig sinnvolle Lösung scheint eine Mischung aus Analyse, Kalkül und einer stringenten Herangehensweise an das eigene Leben zu sein. Dass Authentizität und vor allem die eigene Gefühlslandschaft darin verloren gehen, ist zu verkraften. Immerhin winkt der Preis, dass einem als solides und braves Mitglied der Herde anerkennend auf die Schulter geklopft wird. Herzlichen Glückwunsch! Ich will gar nicht daran denken, wie viel Kreativität, köstlich unverschämter Humor und verrückte Lebendigkeit dabei auf der Strecke bleiben.
Die Welt ist steril und ungefährlich geworden. Keine Ecken, keine Kanten, keine differenten Meinungen – spannend. Erst recht, wenn man bedenkt, wie gerade allerorts Vielfalt und Toleranz gepredigt werden. Am liebsten genießt man seine Vielfalt natürlich politisch korrekt. Meinungsfreiheit? Gern, sofern sie zum allgemeinen Tenor passt. Ich finde es beruhigend, dass die Dinge sich immer wieder selbst ad absurdum führen.
Einer „meiner“ Menschen hat unfassbar viel kreatives Potential, einen äußerst kontroversen Humor und eigentlich eine Menge zu sagen. Dinge mit gescheitem Inhalt. Aber er weiß, es blüht ihm etwas, wenn er das ungefiltert rauslässt. Insbesondere Vorurteile seinem Charakter gegenüber. Folglich wird ihm von Anfang an die Chance genommen, sich mitzuteilen. Man hört ihm nicht zu, liest nicht zwischen seinen Zeilen. Unendlich schade.
Mir ist klar, dass du weißt, dass ich gerade von dir spreche. Ich schreibe dies auch in Gedanken an dich und bin mir sicher, dass du mir zustimmst. Bei Seelenzwillingen ist es schließlich egal, von wem es kommt. 😉
Generell schätze ich mich glücklich, dass meine Engsten allesamt gesegnet sind. Gesegnet mit herrlich unanständigem Humor und einem starken Charakter, der keinen Trends folgt. Das sind Menschen, die sich nicht gewaltsam korrekt geben und auch mal einen raushauen, gleichzeitig jedoch über die süßesten Herzen, eine messerscharfe Intelligenz und einen hohen Anspruch an sich selbst verfügen. Vor allem an sich selbst, denn es widerstrebt ihnen, den Zeigefinger gegen andere zu erheben. Menschen, die herrlich über sich selbst lachen können, ganz ohne Opferattitüde. Eigentlich können erstaunlich viele Menschen über ihre vermeintlichen Schwächen lachen und schreien auch nicht sofort um Hilfe, wenn es ein anderer tut … bis jemand kommt und sagt: „Hört bitte sofort auf, über dessen Schwäche zu lachen!“ Mit welcher Begründung sich dieser Jemand das Recht herausnimmt, so etwas zu fordern, erschließt sich mir nicht. Wurde er ausdrücklich darum gebeten? Scheint ihn nicht zu interessieren; es wird für die Sache gekämpft, ganz egal, ob gewünscht oder nicht.
Ich kann nicht mehr zählen, wie oft über meine Verpeiltheit geschmunzelt und wie oft ich mit meinem Rechentalent aufgezogen wurde. Letztens hat man mir angedroht, einen Beitrag über meine amüsantesten Satzkreationen zu veröffentlichen – anonym, versteht sich. Ich bin ohne Binnen-I aufgewachsen, mir wurden Komplimente frei von der Leber weg gemacht, und mitunter wurde ich auch abgelehnt. Erstaunlicherweise habe ich es dennoch ohne grobe psychische Schäden bis hierher geschafft. Mit Sicherheit haben jene eigensinnigen und wunderbaren Menschen, die mein Dasein bereichern, maßgeblich zu meinem Seelenwohl beigetragen.
Eigensinnige und wunderbare Menschen finden sich auch in der Modewelt. Ich sage es immer wieder, Mode wird zu Unrecht als oberflächlich abgetan. Sowohl in ihr selbst als auch in ihren Schöpfern kann ich laufend Philosophisches entdecken. Wer mich kennt, weiß, dass ich ein riesiger Fan von Coco Chanel bin – obschon mein Budget lediglich zulässt, ihr Nº 5 zu tragen. Seis drum. Coco würde sich bei dem Gedöns von heute an den Kopf fassen. Sie, die immer Kontroverse.
Eigentlich wollte ich an dieser Stelle aber Jean Paul Gaultier erwähnen, von jeher ein bunter Vogel und jemand, der seinen Weg ging, ohne sich groß um Konventionen zu kümmern. In der Szene ist er als feiner Kerl bekannt. Er meinte, er habe das Parkett der Haute Couture verlassen, weil es der „Political Correctness“ wegen dermaßen glattgeschliffen sei, dass es auf ihn keinen Reiz mehr ausübe und außerdem der Kreativität schade. Ja, von so manchem Exzentriker können wir lernen.
Was ich darf und was nicht, weiß ich jetzt allerdings noch immer nicht. Darüber habe ich mir am Weltfrauentag schon den Kopf zerbrochen. „Ist es in Ordnung, wenn ich mir in den Mantel helfen lasse?“ Ihr erinnert euch vielleicht. Zeit, ein wenig zu brainstormen.
Vor einigen Jahren hatte ich eine russische Patientin, die mir ein herzallerliebstes Geschenk machte: eine kleine Skulptur, die in Russland als Glücksbringer gilt. Ich habe sie in meinem Wohnzimmer aufgestellt – aber geht das aktuell noch klar? Ich lasse sie stehen, so einfach ist das. Sie war ein Geschenk aus Dankbarkeit und ehrlicher Zuneigung, das ist alles, was für mich zählt.
Darf ich einen jüngeren Mann lieben oder bin ich dann eine sogenannte … okay, das schreibe ich jetzt nicht aus. Ergänzt den Satz nach eurem Gutdünken. In den Kopf kann euch ja keiner blicken, also traut euch! Ich für meinen Teil sehe das übrigens entspannt. Vielleicht ist meine Haut nicht mehr straff genug, aber mein Herz ist es, dieses wilde Ding. An Begrifflichkeiten stoße ich mich nicht. Und sollte ich einen weit älteren Mann lieben, dann laufe ich eben Gefahr, dass man ihn als meinen Sugar-Daddy sieht, der mich finanziell aushält. Es genügt mir, wenn ich selbst weiß, dass auch er im Inneren noch ein wilder Abenteurer ist.
Ich bin unsagbar froh, ein Herz mein Eigen zu nennen, das komplett resistent gegen Konventionen und rationale Überlegungen ist. Es sucht sich aus, wen und was es will und ignoriert sämtliche Regeln.
Ach, und weil ich gerade beim Thema Herz bin: Warum geben Mädels eigentlich ständig ambivalente Signale? Sie ziehen sich halbnackt an bzw. aus, präsentieren sich auf Instagram & Co. und sind dann empört, wenn ein Mann das sexy findet. Ist aber auch ein Wüstling, schließlich machen sie das nicht, um jemandem zu gefallen, sondern nur für sich selbst. Ich bitte euch. Warum muss man sich selbst so beschwindeln? Ich bin eine Frau und meine Freundinnen begleiten mich seit Jahrzehnten – und noch immer reden wir mit Wonne über Männer und die Liebe. Keine lehnt ab zu gefallen und alle tun wir gern etwas dafür. Wann wurde dieses herrliche Spiel zwischen Frau und Mann abgeschafft? Traurige Welt.
Auch ich bin der Meinung, dass ein Minirock mitnichten eine Einladung zum Anfassen ist. Sich jedoch aufzubrezeln ohne einen einzigen Hintergedanken zu haben, sorry, das halte ich schlicht für unehrlich.
Studien haben gezeigt, dass sich bislang noch keine Generation von Frauen innerlich dermaßen zerrissen gefühlt hat wie die heutige. Als Erbinnen früherer Freiheitskämpferinnen ist ihnen wohl bewusst, dass es für sie keinerlei Grenzen mehr gibt. Theoretisch können sie Soldatin werden und zum Mond fliegen. Andererseits halten sie Diäten, schinden ihre Figur zur Topform, laufen zum Schönheitschirurgen, stehen eine Stunde früher auf, um sich zu schminken, und quetschen sich in das unbequemste Schuhwerk, das sich auftreiben lässt. Alles nur für sich selbst, weil diese Dinge das Leben angenehmer machen und die Seele nähren, schon klar. Ich feiere Frauen, die dazu stehen, nicht nach der großen Karriere, sondern der großen Liebe zu streben.
Obendrein ist es absolut zulässig, sich auf dem Weg dorthin hübsch zurechtzumachen, denn die inneren Werte sowie ein toller Charakter stehen einem nicht auf der Stirn geschrieben. Der Mensch hat nun einmal Augen im Kopf. Ästhet zu sein bedeutet nicht automatisch, oberflächlich zu sein. Dabei spreche ich nicht von bizarren Schönheitsidealen, denen kaum jemand entsprechen kann. Vielmehr meine ich damit, dass man auf sich achtet und sich pflegt, dass einem das Aussehen nicht vollkommen egal ist. Zumal das auch Spaß machen kann.
Jetzt habe ich eine ganze Menge geschrieben und hoffe, damit nicht irgendwelche Gesetze bezüglich des Umfangs einzelner Blogbeiträge gebrochen zu haben. Ich nehme dennoch nichts raus.
Ob ich das darf?
Natürlich – immerhin bin ich eingetragen weiblich. 😜
Ich zitiere dich kurz mal. „Die Welt ist steril und ungefährlich geworden.“ Künstlich ist sie und gefährlicher den je. Dieser Einheitsbrei, der nach der totalen Freiheit sucht in einem System der Ausgrenzung und Bevormundung, überlebt sich selbst nicht. Man findet keine Erkenntnis mehr, da diese versteckt im System lebt. Aber das erkennen die Menschen nicht. Zumindest der größte Teil der Menschheit nicht. Das nicht den Mund aufmachen liegt in großen Teilen darin begründet, dass Menschen denken, dass es OK ist, wie man momentan lebt. Freiheit für alle und Gleichberechtigung für alle. Klingt doch gut. Aber nur, wenn man nicht die Personen betrachtet, die diese angebliche Gleichheit und Freiheit ausgerufen haben. Da bekommen dann die Worte gleich und frei völlig andere Bedeutungen.
Hat mit wirklich viel Spaß gemacht, deinen Worten hier zu folgen. Sie sind erfrischend, in einem sonst oft sehr angepassten Einheitsbrei, zu lesen. Mutig und aus dem Verstehen geboren. Mehr davon kann dieser Welt und dieser Zeit nur guttun. Aris
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Ich bedanke mich für deine Gedanken zum Thema und deine netten Worte an mich. Ein waches Auge auf all die vermeintlich guten Entwicklungen zu haben, ist ein wichtiger Ansatz.
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So sehe ich das auch.
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Alles eine Frage des Fokus. Und – auch aus der Enge entsteht mit der Zeit Weite. Deine Gedanken, Gefühle, und auch die Art, wie du sie zum Ausdruck bringst, gefallen mir!
Grüße, Reiner
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Vielen Dank, lieber Reiner! Beste Grüße zurück.
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Einer „deiner“ Menschen also … ich genieße die Anonymität. 😉
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… und die will man doch tunlichst wahren! Da bin ich achtsam. 😉
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