Kurzgeschichten

Bergwelten – Teil 3

Der Zug bewegte sie langsam an ihr Ziel.
Die letzte Stunde hatte sie in der Umarmung des Schlafes verbracht und blinzelte nun in die Landschaft, die an ihr vorbeizog und sich sehr von der ihrer Heimat unterschied.

Manchmal fragte sie sich, ob sie nicht träumte. Sie war unterwegs zu ihm.
Nein, nicht auf eines seiner Konzerte. Diesmal wollte er ihr die andere Liebe seines Lebens – die Berge – zeigen.
Damals, nachdem sie ihm durch ihre fachkundige Betreuung das Konzert gerettet hatte, waren sie in ein langes Gespräch eingetaucht, in dem sie sich näher kennengelernt hatten. Er erkannte ihre Begeisterungsfähigkeit, ihre Neugier auf das Leben. Sie war stürmisch und impulsiv, oft musste er schmunzeln, weil die Gefühle so ungefiltert aus ihr flossen. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die darauf achteten, sich hinter kühlen Fassaden zu schützen.
Kurzerhand hatte er sie in seine Welt eingeladen, wollte ihr Panoramen zeigen, die sie staunen lassen würden.
Seine Dankbarkeit kannte keine Grenzen, er hatte das Konzert durchspielen können, der Schmerz war am nächsten Tag noch einmal als eine Ahnung aufgetaucht.
Einem seltenen Anflug von Übermut folgend lud er sie ein, ihn zu einer Tageswanderung zu begleiten. Sie hatte zugesagt.

Als sie dem Zug entstieg, sah sie ihn schon am Bahnsteig warten. In seiner Heimat war er kein „Star“, hier war er einer von ihnen. Niemand starrte ihn an oder verlangte Fotos und Unterschriften.
Er begrüßte sie mit einer herzlichen Umarmung. Erkannte sie in sich ein ähnliches Wohlgefühl wie vorhin in den Minuten ihres tiefen Schlafes, etwas Tröstliches?

Zusammen verbrachten sie einen harmonischen Abend, bei gutem Essen und Gesprächen, die sie erfüllten und in eine Blase zogen, wo der Rest der Welt ausgeblendet schien. Die Zeit nahm sie eigenartig ambivalent wahr, denn einerseits schien der Augenblick wie eingefroren, sah sie aber auf die Uhr, dann konnte sie kaum glauben, wie die Stunden dahinflogen.
Er war ein angenehmer Gesprächspartner, schob sich nie in den Vordergrund, ließ sie erzählen, hörte zu, stellte Fragen an den richtigen Stellen. Ihn empfand sie als schnörkellos und tiefgründig, er konnte über sich selbst lachen und gab ihr das Gefühl, dass er aufrichtig interessiert war an dem, was sie bewegte und sie mit ihm teilen wollte.
Überhaupt war alles von einem Lächeln, das unsichtbar zwischen ihnen schwang, geprägt. Das Gefühl, das sie in seinen Konzerten hatte, nahm reale Form an, wenn auch nur als eine verschwommene Vision davon, was alles möglich sein kann.

Als der Abend fortschritt, meinte er, dass man sich nun zurückziehen solle, damit sie ganz früh aufbrechen konnten, denn nichts sei seinem Empfinden nach unschuldiger und reiner als ein Morgen, an dem die Natur jeden Tag aufs Neue wiedergeboren wurde.
Damit verabschiedete er sich vor ihrem Hotel und ging seiner Wege.

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