Gedankensplitter

Stadt, Land? Fluss eher nicht.

Obwohl er für meine Wenigkeit ursprünglich eine ländliche Heimat auserkoren hat, hat Gott sich irgendwann die kleine Tücke überlegt, mich mein Herz obendrein an die Großstadt verlieren zu lassen – genauer gesagt an Wien. Nun ist es ein bisschen so, als würden zwei Geliebte um mich buhlen.

Während manche Stadtbewohner den Menschenmassen und Häuserschluchten entfliehen, wenn sie nach dem verlockenden Grün streben, das ihre Wochenendhäuser umgibt, habe ich häufig das Gefühl, dass die Stadt mir ihre Arme entgegenstreckt. Als würde sie mich willkommen heißen und mir verführerisch mein Korsett aufschnüren wollen, Band für Band, sodass ich wieder ich selbst sein kann.

Das Land wirbt mit dem raueren Charme. Es lässt einen auf einer einsamen Landstraße dahinfahren und plötzlich ein ganzes Universum am Himmel erstrahlen. Manchmal findet man sich unvermittelt von glitzernden Wasserstellen, kecken Vögeln und berauschenden Farben umgeben wieder. Regelmäßig sorgte die Wucht solcher Momente dafür, dass ich selbst auf Erbsengröße zusammenschrumpfte. Mein Herz jedoch wurde weit, wollte von den Wundern berührt werden, Teil davon sein.

Es bedarf keiner Diskussion: Das Leben im Einklang mit der Natur ist sowohl gesünder als auch gemächlicher. Dementgegen stehen aber jene magischen Orte, welche mir die Stadt wie aus dem Nichts offenbart hat; sogar zwischen Millionen von Menschen gehörten sie im jeweiligen Augenblick nur mir allein, ließen mich innehalten, tagträumen und lächeln.
Die Kraftplätze auf dem Land biedern sich nicht an. Sie sind schwerer zu finden,
zeigen sich bloß in ganz bestimmten Momenten. Sie flößen einem eher Respekt ein und man hat selten das Exklusivrecht darauf.

Inmitten der anonymen Masse habe ich mich nie einsam gefühlt. Ich habe mich selbst in meiner Individualität wahrgenommen, unter all den Leuten, deren Lebensgeschichten ich nur erahnen konnte. Das gab mir ein unvergleichliches Gefühl der Verbundenheit mit ihnen.
Die Jeder-kennt-jeden-Attitüde auf dem Land wiederum bereitet mir Unbehagen. Sie erweckt in mir den Eindruck, die Menschen würden innerlich verdorren, weil sie aus Angst vor übler Nachrede nicht mehr dem Weg ihres eigenen Herzens folgen. Ob das gesund ist? Dann ist da allerdings dieser Ladenbesitzer, der einen mit Namen anspricht, der Nachbar, der sich nach dem Wohlergehen erkundigt und einem seine Hilfe anbietet … und eben dieses leichte, beschauliche Lebensgefühl.

Die Stadt pulsiert, atmet Kunst, Kultur und kreative Entfaltung. Sie funkelt, streut ihre Bewohner Tag für Tag ins urbane Universum. Die Nervenzellen vibrieren.
Die Natur
bemüht sich nicht um Werbung in eigener Sache, sie IST einfach. Man spürt ihre Macht, gegen die man sich zwar stemmen, aber schwerlich gewinnen kann. Majestätisch und unverschnörkelt schön.

Es schien, als könnte ich weder ohne das eine noch das andere. Das führte zu zwei Wohnsitzen; die Woche gehört Wien, das Wochenende dem Land – natürlich in annehmbarer Nähe zu meiner Stadt, deren Hand ich bei Bedarf ergreifen kann. Zumindest eine Entscheidung bleibt mir erspart: Es ist nicht absehbar, dass ich jemals auf einem Hausboot leben werde …

Diesen Text habe ich vor fast zehn Jahren verfasst. Anscheinend waren es meine Lehr- und Wanderjahre, die Zeit, in der ich mich und meinen Platz im Leben suchte. Mittlerweile bin ich angekommen. Es hat gar nicht mehr lange gedauert, bis die finale Entscheidung gefallen war.

Ich habe sie nie bereut. Wahrscheinlich wusste ich es immer und musste nur den Gegensatz erfahren. Ich bin dankbar für dieses Jahrzehnt des Ausbrechens.
Meine Stadt besuche ich trotzdem ab und zu. Ganz ohne Melancholie.

Ich habe noch ein kleines PS.
Die Heimat, von der man annimmt, man kenne sie wie die eigene Westentasche, durfte ich vor drei Wochen in Begleitung eines Menschen, der zum ersten Mal bei mir war, ganz neu entdecken. Marschrouten durch Nationalparkgebiet rund um ausgetrocknete Lacken, spektakuläre Sonnenuntergänge an den Seen und eine Nachtwanderung durch einen Schlosspark ließen mich Eindrücke sammeln, die zu bleibenden Erinnerungen werden. Ich erkannte erneut, dass es Landschaften gibt, deren Zauber sich nicht plakativ vor einem ausrollt, sondern sich langsam erschließt.

2 Antworten auf „Stadt, Land? Fluss eher nicht.

  1. Danke für diesen schönen Text – sowohl den früheren als auch den aus jetziger Sicht verfassten. Ich finde mich sehr in dem früheren Teil wieder, finde es aber toll zu lesen, dass du letztendlich eine Entscheidung getroffen hast und mit ihr glücklich bist. Das macht definitiv Mut 🙂

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