Gedankensplitter

Virtuelle Ersatzwelt

Generell würde ich Fortschritt als etwas Gutes sehen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sagen, früher war alles besser. Dass die Welt und die Menschen vielleicht entspannter, entschleunigter waren, das möglicherweise. Wissen können wir es nicht, ich denke, jede Zeit hatte ihren eigenen „Stress“.

Den Fortschritt per se zu verteufeln halte ich für nicht richtig. Wie wären wir aus den Höhlen gekommen, hätten gelernt, uns zu sozialisieren und das medizinisch/hygienische Niveau von jetzt zu erreichen? Stimmt, das Tempo, in dem sich Technik und Fortschritt entwickeln, könnte manchmal langsamer sein, damit auch unser Gehirn Zeit hat, mitzukommen. Sich anzupassen, aber entspannt, nicht im Cortisolrausch. Aber man muss auch ins Feld führen, dass es vielleicht sogar dieser Speed ist, der Gegenwind erzeugt unter den Menschen, sie wieder kritischer werden lässt, reflektierter. Die Erkenntnis reifen lässt, dass der technische Standard von heute großartig ist, aber die Sehnsucht nach einem Gegenpol linear dazu wächst: nach Natur, nach biologisch reinen Lebensmitteln, weniger Chemikalien und mehr echten sozialen Kontakten. Also zu einer positiven, gesunden Balance, was die ausgeglichenen Waagschalen aus beiden Welten ermöglicht. Soweit der Idealzustand, die wirklich wertvollen und seit ewig existierenden Dinge zu schätzen und trotzdem offen für Fortgang zu sein.

Stichwort soziale Kontakte. Zur Zeit herrscht Ausgangssperre, Quarantäne. In früheren Zeiten hätte das für manche Menschen die komplette Isolation von anderen bedeutet, ja sogar von den nächsten, der Familie. Man liest in diesen Tagen, dass diese Zeit gerade auch ihren psychischen Tribut fordert. Viele können damit nicht umgehen, und in Wahrheit ist es auch so, dass wir soziale Wesen sind, die eine Herde brauchen, die abhängig sind von der Zuneigung und der Zuwendung durch andere Menschen. Ein Baby, das nicht berührt wird, hat ein schwächeres Immunsystem als eines, welches schlecht ernährt wird. An sozialer Kälte können wir „sterben“.

Wieviel trägt in der aktuellen Gegenwart GERADE der technische Fortschritt dazu bei, dass wir wenigstens virtuell verbunden bleiben können? Über Smartphones, Whatsapp und Skype? Wir fotografieren uns in der Quarantäne und können dies mit anderen auf Instagram teilen. Wir fühlen uns trotzdem verbunden, ANGEBUNDEN an die Welt da draußen. Diesen Luxus hatten Menschen früher nicht. Quarantäne bedeutete auch Einsamkeit, nur unterbrochen von der Hand, die einem das Essen unter der Tür durchschiebt.

Dafür sollten wir schon auch dankbar sein und den technischen Fortschritt auch schätzen. Denn es geht nicht nur um den Austausch mit unserem nächsten Umfeld.
Ärzte können ihre Patienten via Skypeordination betreuen, gut, sie können vielleicht keinen Zahn ziehen, aber genug andere kleine und große Fragen können sie mit beruhigenden Antworten abfedern. Dank des Onlinehandels sind wir nicht von allem, was wir brauchen, abgeschnitten. Ein Bekannter von mir hat eine Eventfirma im Wien, die aufgrund mangelnder Events zur Zeit still steht. Er hat sich eine großartige Idee überlegt. Es ist schon schlimm, dass die Menschen Angst haben um ihre vor allem älteren Angehörigen. Kommt es im Äußersten doch zu einem Todesfall, ist dies zur Zeit noch weit psychisch belastender, weil niemand auf ein Begräbnis, das eine unglaublich wichtige Funktion in der Trauerbewältigung hat, gehen darf. Er hat sich überlegt, mit seiner Ausrüstung und dem Zusammentun mit Bestattungsunternehmen die Zeremonie zu filmen und live im Netz für einen eigenen Zugang zu streamen, wo jeder, der um den Verstorbenen trauert, für sich zuhause in aller Stille daran teilnehmen kann. Ähnlich wie die Messe im Fernsehen, die für manche Kranke die einzige Chance ist, ihr beizuwohnen, nur eben nicht öffentlich, sondern auf einem eigenen Kanal. Ich finde das wunderbar, einerseits für die Trauernden, andererseits hat hier jemand eine Lösung gefunden, wie seine Dinge nicht in der Lagerhalle verstauben und stillstehen, sondern vielleicht sogar sinnvoll genutzt werden. Und bevor hier jetzt jemand „PIETÄTLOS!“ kräht, geht für einen kurzen Moment in euch, ob es leichter wird, wenn die traumatisierten Hinterbliebenen ohne eine Abschiedszeremonie dastehen, oder sie sich besser fühlen, wenn sie sich vor dem Bildschirm um den Küchentisch versammeln, eine Kerze anzünden und wertvolle Bilder erleben, kein Laienhandygewackle in einem sensiblen Moment. Die Menschen werden wieder kreativ, überlegen sich Lösungen für diese für alle harte Zeit, niemand liegt einfach nur im faulen Ersatzurlaub herum. Und das alles aber auch DANK der modernen Technik.

Wir Physiotherapeuten bieten jetzt auch virtuelle Heilgymnastik via Skype an. Berühren werden wir noch länger niemanden dürfen, aber Bewegung ist für den Körper, unsere Faszien, unser Gehirn, das Immunsystem und unsere Psyche essentiell wichtig, und wenn wir hier nur einen kleinen Beitrag leisten können, auch wenn alle Welt zur Zeit auf die Atemwege fokussiert scheint, dann ist schon geholfen. Um an einem gesund geführten Bewegungsprogramm teilzunehmen, muss dabei niemand sein Haus verlassen. Auch das war früher unmöglich.

Jede Zeit hat ihre Krise. Zu jedem Zeitpunkt des technischen Fortschritts in dieser Welt. Ich denke, unsere Urgroßeltern wären dankbar gewesen für so manches, was uns schon lange als selbstverständlich erscheint und hätten wohl von den „guten, modernen Zeiten“ gesprochen…

 

 

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